Zum 1. April 2025 tritt das Justizstandort-Stärkungsgesetz1 in Kraft. Das Gesetz eröffnet die Möglichkeit, bestimmte Wirtschaftsstreitigkeiten zukünftig in erster Instanz vor dem Oberlandesgericht auszutragen. Darüber hinaus öffnet sich die deutsche Justiz für englischsprachige Verfahren.
Klageerhebung zum Oberlandesgericht
Das Justizstandort-Stärkungsgesetz gibt den Bundesländern ab April 2025 die Möglichkeit, sogenannte Commercial Courts an den Oberlandesgerichten einzurichten (bzw. in Bayern alternativ am Obersten Landesgericht). Die Commercial Courts sollen eine Alternative zur Klageerhebung vor dem Landgericht, einem Schiedsgericht oder einem ausländischen Gericht bieten. Hierzu können die Bundesländer künftig in den nachfolgend genannten Fällen die Option eröffnen, direkt zum Commercial Court zu klagen, sofern im Einzelfall ein Streitwert von EUR 500.000 erreicht wird:
- Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern2 – etwa Streitigkeiten zwischen zwei Kapitalgesellschaften im Konzern oder sonstige Streitigkeiten zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Gesellschaftern, die Unternehmer im Sinne von § 14 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind.
- Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Erwerb von Unternehmen oder Anteilen an Unternehmen – z.B. Post-M&A-Streitigkeiten bei Share- oder Asset-Deals, Streitigkeiten bei Kapitalerhöhungen.
- Streitigkeiten zwischen einer Gesellschaft und Mitgliedern des Leitungsorgans oder Aufsichtsrats – insbesondere Haftungsklagen gegen GmbH-Geschäftsführer, Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder, aber auch Vergütungsklagen von Organmitgliedern.
Die mit dem Justizstandort-Stärkungsgesetz eröffnete Möglichkeit, vor dem Commercial Court zu prozessieren, ist damit nicht zuletzt für den Bereich des Aktien- und GmbH-Gesellschaftsrechts relevant. Hier wie auch in anderen Bereichen waren die Oberlandesgerichte bislang im Grundsatz nur als Berufungsinstanz tätig, nachdem bereits ein landgerichtliches Urteil vorlag.3 Auf Grundlage der neuen Regelungen kann der Commercial Court am Oberlandesgericht künftig hingegen direkt als erste Instanz tätig werden.
Bestimmte Arten von Verfahren sind allerdings ausdrücklich aus dem Anwendungsbereich der Neuregelungen ausgenommen. Dies gilt etwa für Streitigkeiten über Beschlüsse der Haupt- oder Gesellschafterversammlung (Anfechtungsklagen, Nichtigkeitsklagen) oder Spruchverfahren (z.B. bei Verschmelzungen oder einem Squeeze-out). Solche Verfahren können auch in Zukunft nicht vor dem Commercial Court verhandelt werden.
Englischsprachige Verfahren
Bei Verfahren, für die der Weg zum Commercial Court offensteht, können die Bundesländer nach dem Justizstandort-Stärkungsgesetz weiter die Möglichkeit einräumen, diese vollständig in englischer Sprache zu führen. Dies war bislang so nicht vorgesehen, da die Gerichtssprache nach den maßgeblichen Regelung des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) herkömmlich die deutsche Sprache ist. In dieser Hinsicht öffnet sich die deutsche Justiz nunmehr weiter für internationale Verfahren.
Die Option, auf Englisch zu prozessieren, soll zudem auch vor den Landgerichten offenstehen. Dort können die Bundesländer zu diesem Zweck sogenannte „Commercial Chambers“ einrichten. Vor den Commercial Chambers am Landgericht können dann ebenfalls (i) Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Unternehmern, (ii) Streitigkeiten aus oder im Zusammenhang mit dem Erwerb von Unternehmen oder Anteilen an Unternehmen sowie (iii) Streitigkeiten zwischen einer Gesellschaft und den Mitgliedern ihres Leitungsorgans oder Aufsichtsrats auf Englisch verhandelt werden. Im Unterschied zu Verfahren vor dem Commercial Court am Oberlandesgericht gilt dies auch unterhalb eines Streitwerts von EUR 500.000.
Umsetzungsstand
Unter anderem für den Gerichtsstandort Frankfurt am Main soll von den dargestellten Möglichkeiten noch im Laufe des Jahres 2025 Gebrauch gemacht werden. Dort ist geplant, sowohl einen Commercial Court am Oberlandesgericht einzurichten als auch eine Commercial Chamber am Landgericht, jeweils mit der Möglichkeit zur englischsprachigen Verfahrensführung. Ebenso soll etwa in Berlin, München und Düsseldorf ein Commercial Court eingerichtet werden. Damit soll der Justizstandort Deutschland für Wirtschaftsstreitigkeiten attraktiver werden, gerade in Konkurrenz zur Schiedsgerichtsbarkeit.
Bedeutung für die Praxis
Auch wenn die Länder in Zukunft Commercial Courts am Oberlandesgericht einrichten und die Option eröffnen, Verfahren in englischer Sprache zu führen, wird damit kein Zwang begründet, tatsächlich vor dem Commercial Court oder auf Englisch zu prozessieren. Beides ist vielmehr lediglich eine Option für die Parteien des jeweiligen Rechtsstreits. Diese können sich vorab darauf einigen, im Fall einer späteren Streitigkeit den Commercial Court anzurufen, ebenso wie darüber, ggf. auf Englisch zu prozessieren. Alternativ kann jede Partei auch ohne vorherige Absprache Klage zum Commercial Court erheben, bei Bedarf auch in englischer Sprache. Dann kommt es allerdings darauf an, dass die Gegenseite dem nicht widerspricht (sog. rügelose Einlassung).
Ob ein Verfahren vor dem Commercial Court geführt wird, hängt damit vom Willen der Parteien ab. Als Alternative steht diesen oftmals insbesondere die Anrufung eines Schiedsgerichts oder eine Klage zum Landgericht offen. Für die Entscheidung zwischen diesen Optionen können verschiedene Gesichtspunkte eine Rolle spielen:
- Vertraulichkeit: Schiedsgerichtliche Verfahren sind in hohem Maß vertraulich, da sie nicht der Öffentlichkeit zugänglich sind, anders als Verfahren vor den staatlichen Gerichten. In Zukunft können zwar zumindest Geschäftsgeheimnisse auch am Commercial Court und an den Landgerichten als geheimhaltungsbedürftig eingestuft werden und unterliegen in diesem Fall einem besonderen Schutz nach einem neuen § 273a der Zivilprozessordnung (ZPO). Allerdings dürfte der damit gewährleistete Geheimnisschutz teils nach wie vor hinter dem Schutzniveau zurückbleiben, das die Schiedsgerichtsbarkeit bietet.
- Rechtsmittel: Landgerichtliche Urteile können mit der Berufung und ggf. der Revision angegriffen werden. Demgegenüber steht gegen Urteile des Commercial Courts nur die Revision zum Bundesgerichtshof offen, was verglichen mit Prozessen, die vor dem Landgericht begonnen werden, zu einer Beschleunigung des Verfahrens beitragen kann. Gleichzeitig ist bei Urteilen des Commercial Courts immer noch eine Fehlerkontrolle gewährleistet, da gegen diese zumindest noch die Revision eingelegt werden kann. Dies ist in der Schiedsgerichtsbarkeit anders. Entscheidungen der Schiedsgerichte können grundsätzlich nicht angegriffen werden, selbst wenn sie fehlerhaft sind.
- Verfahrensdauer: Verfahren vor den Landgerichten dauerten bislang nicht selten länger als Schiedsverfahren. Anders kann dies in Zukunft vor dem Commercial Court und den Commercial Chambers am Landgericht aussehen. Hier können verschiedene Maßnahmen zur Beschleunigung des Verfahrens beitragen (z.B. ein verpflichtender Organisationstermin zwecks Ablaufplanung) und ggf. sogar dafür sorgen, dass das Verfahren in kürzerer Zeit abgeschlossen wird als ein durchschnittliches Schiedsverfahren. Keine kürzere Verfahrensdauer als vor einem Schiedsgericht ist aber zumindest dann zu erwarten, wenn gegen Urteile des Commercial Courts Rechtsmittel eingelegt wird. Dies kann – ebenso wie bei vor den Landgerichten geführten Prozessen – das Verfahren (erheblich) in die Länge ziehen. In diesen Hinsicht sind die Schiedsgerichte, gegen deren Entscheidungen in der Regel keine Rechtsmittel offenstehen, zumindest was den Faktor Zeit angeht nach wie vor im Vorteil.
- Expertise des Gerichts: Im Vergleich zu den Landgerichten ist am Commercial Court verstärkt damit zu rechnen, dass diese mit erfahrenen, spezialisierten Richtern besetzt sind. Damit dürfte dort in der Regel eine ausreichende Expertise zur sachgerechten und zügigen Bearbeitung auch von wirtschaftlich komplexen Fragestellungen vorhanden sein. Zwar sind die Schiedsgerichte in Puncto Expertise im Zweifel gleichwohl im Vorteil. Denn dort besteht die Möglichkeit, die Richterbank für jeden Einzelfall individuell neu mit solchen Personen zu besetzen, die gerade über diejenigen Spezialkenntnisse verfügen, auf die es für die Bearbeitung des jeweiligen Falls ankommt (z.B. in bilanziellen, steuerlichen oder betriebswirtschaftlichen Fragen). Dieser Vorteil dürfte allerdings im Vergleich mit der Fachkompetenz und Erfahrung, die am Commercial Court auch so zu erwarten ist, kaum mehr maßgeblich ins Gewicht fallen.
- Einbeziehung Dritter: Die staatlichen Gerichte sind zudem im Vorteil, wenn es darum, Dritte im Wege der sogenannten Streitverkündung in das Verfahren einzubeziehen (z.B. ein Aufsichtsratsmitglied, gegen das Regressansprüche bestehen können, je nachdem wie ein gegen ein Vorstandsmitglied geführtes Organhaftungsverfahren ausgeht) und so dafür zu sorgen, dass diese Dritten an die Ergebnisse des Verfahrens gebunden sind. Diese Möglichkeit besteht ohne weiteres nur vor dem Commercial Court und den Landgerichten. Vor einem Schiedsgericht ist die Einbeziehung Dritter hingegen nicht ohne weiteres möglich.
- Kosten: Verfahren vor dem Commercial Court werden tendenziell kostspieliger sein als ein Verfahren vor dem Landgericht, können allerdings immer noch kostengünstiger ausfallen als ein Schiedsverfahren. Dies gilt indes nur, solange gegen ein Urteil des Commercial Courts keine Revision eingelegt wird. Wird hingegen Revision eingelegt, können die dadurch entstehenden Mehrkosten schnell dazu führen, dass ein Schiedsverfahren doch die günstigere Alternative gewesen wäre, weil in der Schiedsgerichtsbarkeit in der Regel keine Rechtsmittel vorgesehen sind.
- Vollstreckbarkeit: Schiedsgerichtliche Urteile sind auch außerhalb der Europäischen Union (EU) vollstreckbar. Urteile des Commercial Courts und der Landgerichte lassen sich hingegen nur innerhalb der EU vergleichsweise problemlos durchsetzen.
Letztlich lässt sich vor diesem Hintergrund nicht allgemein sagen, dass der Commercial Court stets einen „besseren“ oder „schlechteren“ Weg der Konfliktlösung bietet, verglichen mit einem Prozess vor den Landgerichten oder der Einschaltung eines Schiedsgerichts. Vielmehr hängt es von der individuellen Interessenlage der betroffenen Parteien ab, ob eine Prozessführung vor dem Commercial Court in Betracht kommt.
Unabhängig von der individuellen Interessenlage gilt aber: Die Entscheidung, ob Konflikte künftig vor dem Commercial Court ausgetragen werden sollen (sofern dieser Weg offensteht), sollten die Parteien nach Möglichkeit bereits treffen, bevor ein konkreter Streit entsteht. Dies kann für alle Seiten dazu beitragen, Rechtssicherheit zu schaffen. Daher sind die durch das Justizstandort-Stärkungsgesetz geschaffenen Möglichkeiten auch nicht erst im Rahmen der Prozessführung von Bedeutung, sondern bereits für die Vertragsgestaltung, etwa bei der Aushandlung von M&A-Deals oder dem Abschluss von Vorstands- oder Geschäftsführeranstellungsverträgen.
2 Ausnahme: Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes, des Urheberrechts sowie über Ansprüche nach dem UWG.
3 Ausgenommen insbesondere Freigabeverfahren nach § 246a des Aktiengesetzes (AktG), die bereits bislang in erster und letzter Instanz vor dem Oberlandesgericht geführt werden, sowie Musterverfahren nach dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG).